Norbert Rath über Bert Brune und das Corona-Logbuch - Roland Reischl Verlag

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Norbert Rath über Bert Brune und das Corona-Logbuch

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Bert Brune ist Autor von Gedichtsammlungen (Capuccino 1995; Rotwein, 1999), Erzählungen (Barbara, 1987; Eine Runde um den Block, 2010), Romanen (Der Aquarellist, 1997), autobio­graphischen Texten (Der lange Weg, 1992), von Reiseberichten und „Sonntagsspaziergangs-Geschichten“ (Rheinwärts, 2010; Mein Rodenkirchen, 2011). Er ist ein Kenner, Erforscher und liebevoller Chronist der Kölner Café- und Kultur-Szene („So weit, daß du die Träume lebst …“, 1989; Der Stadtwanderer, 2015; Bei Susi, 2019). Auch an einem „Männerkochbuch“ (Dirty Kitchen, 1995) und an einer Verlagsgeschichte (Wir Wolkensteiner, 2016) hat er mitgearbeitet. Immer entstammen seine Stoffe dem Alltag, oft dem eigenen Erleben; immer vertritt er eine Lebensphilosophie der gelassenen Glückssuche und der unaufgeregten Ausbalancierung von Gegensätzen. Er ist in Köln verwurzelt; ein genauer und freundlicher Beobachter seiner Umgebung; einer, der nicht urteilt oder verurteilt, sondern vorurteilslos darstellt, wie es ist. Seine Texte kommen uneitel daher, sind immer verständlich, scheinbar einfach. Aber es ist eine errungene, „zweite Einfachheit“, die durch Reflexion hindurchgegangen ist und hinter der meist mehr steckt, als der Leser auf den ersten Blick sieht.
Zeichnungen: Bert Brune
Bert Brune hat in der Zeit des „Lockdown“, zwischen 18. März und 18. Mai 2020, fast täglich Aufzeichnungen zu den Auswirkungen der sogenannten Corona-Krise gemacht.  Was machen wir gegen die Ansteckungsgefahr, und was machen diese Gebote, Verbote und Einschränkungen mit uns? Inwiefern verändert dieses Virus – und mehr noch unsere Reaktion darauf – unseren Alltag und unsere Sicht auf die Welt? Wie reagieren wir auf die Herausforderungen durch die Pandemie, und inwiefern handelt es sich dabei um Herausforderungen durch uns selbst? Schließlich sind es 100 Notizen geworden, die hier in der Reihenfolge ihrer Entstehung, lektoriert von Roland Reischl, zu einer beachtlichen Krisen-Chronik zusammengestellt sind.  
Formal handelt es sich um tagebuchartige Aufzeichnungen, Erlebnisberichte, Aphorismen, Reflexionen, Verse. Auch satirische Bemerkungen kommen vor oder ironische Zitate, die den Wirrwarr der Expertenmeinungen offenlegen. Es gibt die Wiedergabe von merkwürdigen Zeitungsnachrichten und Hinweise auf Verwüstungen, die das Corona-Virus, mutiert zu Phrasen, in der deutschen Sprache anrichtet (Nr. 34).
Unvermutet tauchen kleine philosophische Gedankensplitter oder originelle Hinweise zur Lebenskunst auf. Dem Leser geht dabei immer wieder ein neuer Gedanke, eine neue Sichtweise auf, und er fragt sich, warum er nicht selbst schon längst darauf gekommen ist. Dabei ist das Understatement eines der wichtigsten Stilmittel von Bert Brune. Dieser Autor erhebt sich nicht über seine Leser, er biedert sich ihnen aber auch nicht an. Er zeigt uns etwas, was wir eigentlich schon wussten, aber wieder vergessen haben: wie einfach es ist, mit sich und den andern auszukommen und wie wenig dazu gehört, sich am Leben zu freuen – trotz aller Belastungen und Einschränkungen, die in den Wochen des Stillstands unserer Gesellschaftsmaschine zu verzeichnen waren. Er verschweigt nicht, dass er selbst zur Risikogruppe der – bei einer Ansteckung – von einem schweren Verlauf Bedrohten gehört. Überhaupt macht er immer wieder deutlich: Ich bin kein abgehobener, elitärer Experte, der alles besser weiß als ihr. Er macht vor, wie man ohne Hysterie und zugleich ohne Leichtsinn durch diese Krise steuern kann, ohne andere und sich selbst zu gefährden, ohne Angst, aber nicht unvorsichtig. Jede Beobachtung, jede Überlegung wirkt authentisch; alles, was er schreibt, ist so erlebt und empfunden. Er will uns nicht bange machen, macht aber deutlich, dass es hier nicht um eine ausgedachte, sondern um eine wirkliche Gesundheitsgefährdung geht und um die Wege, die davon ausgehenden Risiken zu vermindern. Mit Fantasien, es handle sich bei allem Corona-Getöse nur um eine Verschwörung der Mächtigen, die dem unbedarften Volk etwas vormachen wollen, um ihre Macht zu stärken, hat er nichts im Sinn. Abstand zu halten, und Hände waschen könne jedenfalls nicht schaden (Nr. 43).
Die hundert Texte, die der Autor in Versform oder als Berichte in recht unterschiedlicher Länge verfasst hat, erläutern sich selbst. Dennoch sollen hier ein paar Hinweise auf überraschende Formulierungen und auf den inneren Zusammenhang des Ganzen gegeben werden. Die Ziffern-Angaben folgen der Nummerierung der Beiträge durch den Autor.
Brune bleibt der neuen Sitte des gemeinsamen Klatschens und Singens auf den Balkonen gegenüber zunächst skeptisch (Nr. 4), kann ihr dann aber – mit leiser Ironie - doch etwas abgewinnen: „Vielleicht kann man / indem man die Hände kräftig zusammenschlägt / den Feind doch noch zurückscheuchen.“ (Nr. 11) Man erkennt, dass es sich bei diesem Applaus nicht allein, vielleicht nicht einmal zuerst, um eine Anerkennung der „Helden“ (Nr. 25), der „systemrelevanten“ Kräfte zum Beispiel in der Krankenpflege handelt, sondern um so etwas wie einen kollektiven Abwehrzauber, eine Art von archaischem Ritual, das der Abwehr der Angst der Klatschenden dient.
Oft berichtet der Autor einfach, etwa von einem Kirchgang zu Ostern, bei dem er, neben dem Organisten, der Einzige im Raum einer großen Kirche ist (Nr. 51). Er wundert sich darüber, aber er klagt nicht an. Er fällt nicht auf markige Vorschläge herein, die eine weitgehende und langandauernde Isolierung der Einzelnen vorschreiben wollen, ist nicht für eine Kontaktsperre – mit der Einschließung der kompletten Bevölkerung zu Hause – zu haben. Er teilt dem Leser unaufdringlich mit, dass es vielleicht nicht falsch wäre, neben den vielfach wiederholten offiziellen Empfehlungen und Experten-Stellungnahmen auch mal Gedanken etwa von Laotse daraufhin anzuschauen, ob sie zur Entwicklung von mehr Gelassenheit und damit zur Krisen­bewältigung hilfreich sein könnten (Nr. 22, 44, 46).
Mit den Corona-Schließungen entstehen neue und im Wortsinn dringliche Alltagsprobleme. Wie findet man in einem städtischen Raum, in dem alle Cafés und Restaurants geschlossen sind, eine Toilette (Nr. 26, 80)? Wie hält man den Kontakt zu Freunden und Bekannten (Nr. 30, 31)? Manchen Notizen zufolge bietet die Krise durchaus auch neue Chancen: „anfangs stöhnt man, fühlt sich bedroht, doch dann werden Energien frei – der Künstler, die Künstlerin ist geboren.“ (Nr. 30). Eingrenzungen führen zu intensiverer Aufmerksamkeit: „auch im begrenzten Raum kann man Entdeckungen machen“ (Nr. 21). „Der Stopp“ kann eine Anregung sein, auf den eigenen Weg zurückzuschauen und die Hektik des eigenen Verhaltens in Frage zu stellen (Nr. 49). Auch soziale Aspekte der Corona-Krise kommen zur Sprache: Die Obdachlosen leiden besonders unter der Schließung vieler „Tafeln“ und anderen Einschränkungen; „die Ärmsten haben es am schwersten“ (Nr. 23).
Für Brune gehören Cafés (und zwar solche, die man auch besuchen kann) zu einem genussvollen Leben. Allein aus den Texten dieses Bändchens ließe sich ein Loblied auf die Kölner Caféhaus-Kultur zusammenstellen, die für den „Stadtwanderer“ unverzichtbar ist und deren Lebendigkeit er in Corona-Zeiten schmerzlich vermisst (Nr. 56, 71, 69, 71, 86, 96).
Weitere Sehnsuchtsorte sind der Wald (Nr. 60, 66, 73, 74, 78, 94, 95), der Rhein und – zunächst überraschend – der Friedhof als friedlicher, stiller, zum Nachdenken einladender Park (Nr. 85). Die Corona-Krise mit ihren Einschränkungen hat ja auf das Naturerleben auch einige positive Auswirkungen: Die Luft ist sauberer als sonst (Nr. 85, 94), das Wasser des Rheins ist klarer (Nr. 83). Auch Stress und Hektik des täglichen Lebens gehen zurück (Nr. 82). „Warum rasen die Leute dauernd so rum? Rasen rum und wissen gar nicht, warum und wohin.“ (Nr. 84) Man darf manches nicht mehr, also muss man auch manches nicht mehr. Und es kann ja auch durchaus zutreffen: „Auch auf begrenztem Raum kann man angenehm leben“ (Nr. 82). Oder gilt sogar: „In der Beschränkung liegt die Wahrheit“ (Nr. 79)? Brune meint: weil die Leute infolge der Beschränkungen enger zusammenrücken (Nr. 79). Er sagt „die Leute“, und macht klar, dass er sich dazuzählt (Nr. 79). Wenn manche Spitzenpolitiker interviewt werden, sagen sie „wir“ und „die Menschen“ und zählen dann auf, was sie für „die Menschen“ tun, gerade so, als würden sie nicht zu dieser Spezies gehören.
Bert Brune hält für möglich, dass die Corona-Krise etwas verändert, durchaus auch zum Positiven: „Ein Umdenken findet statt durch Corona“: „Wahrscheinlich werden Historiker, wenn sie auf die Vor-Corona-Epoche zurückblicken, nur kopfschüttelnd ausrufen: ,Mein Gott – damals, da waren wir ja – was das Wohl der Gesellschaft, des Landes, der Welt betrifft – noch in der Steinzeit …‘“ (Nr. 92). Er bleibt Optimist, was die Möglichkeit zum Umschalten auf einen Klimaschutz anbelangt, der den Namen auch verdient. Aber er verkennt auch nicht destruktive Auswirkungen der Corona-Zeit. Bedenklich findet er etwa das Maskentragen: „Eine Maske hat was Unheimliches. […] Der andere bleibt einem fremd. Die Kommunikation, das Wichtigste für uns, die wir auf Gesellschaft, auf Austausch angewiesen sind, ist gestört.“ (Nr. 93.) Es gebe aber auch einen anderen Effekt des Masken-Tragens, den Reiz des halb verborgenen Gesichts: „Die Masken machen die Frauen geheimnisvoll.“ (Nr. 87.)
In einigen Aphorismen wagt er sich in Richtung der Kulturkritik vor. Öfters spricht er an, dass der Klimawandel mittel- und langfristig wohl eine größere Bedrohung als die aktuelle Infektionsgefahr darstellt (Nr. 20). Er fragt, ob man das Virus als „Trick der Natur“, als „Warnung“ verstehen könne (Nr. 88): „Die Natur braucht zwar kein Geld, aber wir könnten ihr Ruhe geben, Freiheit, Entwicklungsmöglichkeiten. Passiert aber nicht.“ Die hoch technisierte Gesellschaft wirke hilflos gegenüber dieser Pandemie (Nr. 75).
Die Erfahrungen in dieser Krise könnten aber nutzbar gemacht werden, so die angedeutete Hoffnung, um Ballast abzuwerfen (Nr. 90), um Bodenhaftung wiederzugewinnen. Ganz konkret ist von der „Zurückeroberung der Bodenhaftung“ beim Gang durch Wiesen und Wälder die Rede (Nr. 78). Um diese Wiedererlangung unserer Bodenhaftung geht es Bert Brune im Grunde, auch in seinen Notizen zur Corona-Krise. Es geht ihm um die praktisch folgenreiche Einsicht, dass nur ein verändertes Naturverhältnis mit einer dauerhaften Anpassung unserer Ansprüche an die Ressourcen dieses Planeten unserer Kultur eine dauerhafte Bodenhaftung verschaffen, sie nachhaltig machen kann. Seine Texte jedenfalls haben Bodenhaftung, in mehrfachem Sinn.

Der Roland Reischl Verlag bedankt sich bei Norbert Rath, ehem. Professor für Erziehungswissenschaft und Sozialwissenschaften an der Fachhochschule Münster, für diese Rezension. Zurück zum Buch


100 Einträge vom 18.3.–18.5.2020. 72 Seiten mit vier farbigen und zwei SW-Zeichnungen des Autors, Softcover 14,8 x 21 cm. Originalausgabe 2020
ISBN 978-3-943580-36-5. 10,00 Euro [D]
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